Blauer Weg by Ortheil Hanns-Josef

Blauer Weg by Ortheil Hanns-Josef

Autor:Ortheil, Hanns-Josef [Ortheil, Hanns-Josef]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Luchterhand Verlag
veröffentlicht: 2014-12-21T05:00:00+00:00


Berlin, März 1992

KOLLWITZPLATZ, RYKESTRASSE, Wasserturm, Husemannstraße – er kreist durch das Viertel des Prenzlauer Bergs, als müßte er dieser Gegend um jeden Preis etwas abgewinnen. Natürlich ist er enttäuscht, nichts zieht ihn an, und in Gedanken ist er sowieso im anderen Teil der Stadt, drüben im Westen. Es macht überhaupt gar keinen Sinn, hier durchzuziehen wie ein Flaneur, obwohl er sich laufend gut zuredet, Geduld aufzubringen.

Erst als er sich später in ein deutlich übriggebliebenes Café an der Schönhauser Allee setzt, das die modische Wende der bunten Lacktischdecken und künstlichen Blumensträuße noch nicht mitgemacht hat, kommt er mit einem älteren Paar ins Gespräch, das ganz in der Nähe wohnt. Der Mann sagt, früher habe er hier nie so gesessen, mit übereinandergeschlagenen Beinen, und die Frau korrigiert ihn, ›tu bloß nicht so!‹, als hätte er begonnen, Geheimnisse zu verraten, oder als wollte er sich einschmeicheln bei diesem Westmenschen, der soviel aufschreibt.

›Was schreiben Sie eigentlich auf?‹ fragt sie schließlich und beugt sich nach vorn, als wollte sie gleich überprüfen, was der Westmensch jetzt sagt. Und als der ihr die winzigen Blätter zeigt, dicht beschrieben, mit einer mikroskopischen Schrift, einem Schneeregen von Buchstaben, gibt sie gleich auf. Wer so schreibt, betreibt keinen Geheimnisverrat, sondern ist vom Schreiben selbst fasziniert.

›Alles wollen Sie aufschreiben? Aber wofür denn?‹ fragt sie noch, und der Westmensch kann es ihr am besten dadurch erklären, daß er sein Schreiben als eine Art Krankheit beschreibt, die ihm jeden Tag kleine Texte abfordert. Ohne diese Texte, begreift dann auch sie, könnte er sich an nichts mehr erinnern, die Texte sind seine Welt, Spiegel seiner Spuren und Gedanken, die er zusammenhalten will, um sich, wann immer das nötig sein sollte, in früheren Zeiten wiederfinden zu können.

Ja, nickt sie, das hat etwas Schönes, das würde ihr auch gefallen, so viele winzige Hefte zu besitzen, vollgeschrieben mit kleinen Texten, die lägen dann in einem riesigen, schwarzen Karton, fein geordnet. Über dem Bild gerät sie sogar in eine gewisse Begeisterung, obwohl sie selbst im Traum nicht daran denkt, sich solche Mühe zu machen.

Jedenfalls hat sie sich nun entschlossen, den Westmenschen sympathisch zu finden, so daß sie plötzlich den Vorschlag macht, er solle sich ihre Wohnung ansehen, wo nach dem Auszug der Tochter ein kleines Zimmer nur noch als Abstellkammer benutzt wird. Es hört sich an, als wollte sie den jungen schreibenden Westmenschen einladen, in dieses Zimmer zu ziehen, ja, sie beginnt schon, die Einrichtung so genau zu beschreiben, als sollte er sich gleich blind zurechtfinden.

Gut, er interessiert sich dafür, er kommt gern kurz mit in die Wohnung, wo es noch einen starken Kaffee gibt und einen Cognac aus einer Flasche, die angeblich seit zwei Jahren halbvoll hier steht. ›Wir halten ihnen das Zimmer frei‹, sagt schließlich die Frau, ›im Sommer, wenn Sie Zeit haben, können Sie bei uns dann wohnen, und dann schreiben Sie alles auf, und wir bekommen später eine schöne Kopie.‹

Er hat das Viertel Prenzlauer Berg mit einem verlockenden Mietangebot verlassen. Schon auf der Rückfahrt westwärts kommt es ihm so vor, als betrachtete er den Westen unter anderem Blickwinkel, nicht als Heimkehrer, sondern als Rückkehrer.



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